Text aus: „Digitale Transformation in Unternehmen — Navigationskompass für die Reise in die digitale Welt“.


Die Kraft der Welle nutzen — Stärken- und Schwächeanalyse des Unternehmens

Der Erfolg einer digitalen Transformation hängt — ähnlich wie bei einer Expedition in der Seefahrt — von vielen Faktoren ab. Wichtig ist unter anderem: eine starke Vision zu entwickeln, ein gutes Team mit den notwendigen Kompetenzen, der richtigen Einstellung und der Fähigkeit zur Umsetzung zu haben, den richtigen Zeitpunkt zu wählen und die notwendige Portion Glück zu haben.

Stärken und Schwächen des Unternehmens als erfolgskritische Faktoren einer digitalen Transformation

Je nachdem, wen man fragt, ist ein anderer Faktor der wichtigste. Und vermutlich lässt sich für jede Position ein plausibles Beispiel finden. Dies legt den Schluss nahe, dass abhängig von der Ausgangssituation andere Faktoren erfolgskritisch sind. Tatsächlich variieren sie zum einen je nach Art der digitalen Transformation — z.B. ob es um die effizientere Gestaltung der Kernprozesse, oder um die Entwicklung radikal neuer digitaler Geschäftsmodelle geht. Zum anderen spielen unternehmensspezifische Voraussetzungen eine wichtige Rolle. Auch wenn die Ausgangslage für jede digitale Transformation somit einzigartig ist, bedeutet dies nicht, dass man ihre Erfolgsaussichten im Vorfeld nicht gezielt steigern könnte. Dafür ist jedoch eine ehrliche Auseinandersetzung mit den eigenen Stärken und Schwächen in Bezug auf die geplante digitale Transformation erforderlich.

Eine solche Analyse sollte über eine oberflächliche SWOT-Analyse hinausgehen und insbesondere die folgenden beiden Aspekte näher beleuchten:

  1. (Fach-)Spezifische Kompetenzen und Ressourcen, welche für die konkrete digitale Transformation von Bedeutung sind
  2. Allgemeine Innovationsfähigkeiten, d.h. Werkzeuge, Methoden und personelle Ressourcen, die das Unternehmen in die Lage versetzen, den Innovationsprozess effektiv zu managen

Spezifische Kompetenzen und Ressourcen beinhalten Kenntnisse über bestimmte digitale Technologien, Partnernetzwerke mit führenden Institutionen in den relevanten Feldern (z.B. Sensorik, künstliche Intelligenz oder Big Data), Erfahrungen mit dem Management von Geschäftsmodellen mit vergleichbarer Logik, oder auch die „Innovationspersönlichkeit“ des Unternehmens (z.B. Optimierung versus der Fähigkeit zu radikaler Innovation).

Allgemeine Innovationsfähigkeiten beziehen sich dagegen auf den Reifegrad der Organisation: Wie effektiv werden die verschiedenen Phasen des Innovationsprozesses unterstützt? Wie gut gelingt es, die notwendige Balance zwischen kreativer Freiheit und strukturiertem Fortschritt zu gewährleisten?

Der Innovationsprozess als Basis der Analyse

Eine digitale Transformation erfordert unzählige, oftmals parallel verlaufende Aktivitäten, die idealerweise auch noch alle koordiniert erfolgen sollten. Um diesen komplexen Innovationsprozess besser managen zu können, nutzen wir ein 6-Phasen-Modell. In jeder der sechs Phasen ist eine gewisse Mischung von Kreativität/Intuition und Analyse sowie Vielfalt (an Sichtweisen, Optionen) und Konsens angemessen, um gute Resultate zu erzielen. Trägt man diese Durchschnittswerte in einem Diagramm ab, so erhält man die „perfekte Welle“ — daher trägt unser Modell den Namen „Business Model Waves“ (siehe Abbildung). Dieses Modell kann als Basis einer systematischen Analyse der Innovationskraft des Unternehmens dienen.

BM Waves Model
Abbildung 1: Business Model Waves — die „Perfekte Welle“
Bessere Entscheidungen, klare Prioritäten, langfristige Verbesserungen

Eine systematische Analyse der Stärken und Schwächen steigert die Erfolgschancen auf mehreren Ebenen:

  1. Wahrnehmungsverzerrungen reduzieren und bessere Entscheidungen treffen: Unternehmen überschätzen häufig die eigenen Fähigkeiten, neuartige digitale Prozesse und Geschäftsmodelle einzuführen. Gleichzeitig unterschätzen sie die psychologischen und organisatorischen (seltener die technischen) Herausforderungen digitaler Transformationen. Dem „Business Case“ wird zudem oft zu viel Bedeutung beigemessen, während die kritischen Annahmen zu eigenen Fähigkeiten kaum hinterfragt werden. Auch wenn ein Business Case attraktiv und robust ist, kann ein weniger ambitioniertes Ziel oder „nicht in See zu stechen“ daher unter Umständen die richtige unternehmerische Entscheidung darstellen.
  2. Prioritäten richtig setzen: Eine Herausforderung ist es, nicht in Komplexität zu ertrinken, gleichzeitig aber kritische Aspekte sehr intensiv zu managen, weil sie a) für das Konzept entscheidend sind, oder b) aufgrund der Ausgangslage im Unternehmen besonderer Aufmerksamkeit bedürfen. Beispiel eines Handelsunternehmens: Die enge Einbindung der Verkaufsleiter kann erfolgskritisch sein, wenn diese im Zuge der digitalen Transformation an Einfluss verlieren und gleichzeitig das Vorhaben unterminieren können.
  3. Innovationsfähigkeiten gezielt verbessern: Digitale Transformationen sind eine längere Reise, möglicherweise bestehend aus vielen verschiedenen Etappen. Daher ist es von großer Bedeutung, aus Fehlern zu lernen und kritische Schwächen nachhaltig zu beheben. Als Christoph Kolumbus mit seinen drei Schiffen nach Ostasien aufbrach (was bekanntlich zur Entdeckung Amerikas führte), lies er sein langsamstes Schiff, die Niña, auf den Kanaren umrüsten: Da er um die Eigenschaften der Passatwinde wusste, ließ er das ursprünglich dreieckige Segel durch ein rechteckiges Rahsegel ersetzen. Die dadurch erreichte Verkürzung der Reise bewahrte Kolumbus möglicherweise vor der drohenden Meuterei. Analog sind Transformationen oft sehr belastend für die Betroffenen — jede Verzögerung kostet nicht nur Geld, sondern gefährdet auch die Akzeptanz des Vorhabens.
Die relevanten Stärken und Schwächen realistisch einschätzen

Um die unternehmensspezifischen Stärken und Schwächen möglichst objektiv bewerten zu können, muss zunächst die Einsicht bestehen, dass nicht nur das Fehlen von Kompetenzen ein Problem darstellt, sondern auch — und möglicherweise in größerem Maße — das Vorhandensein rivalisierender (analoger) Kompetenzen und Interessen. Kodak z.B. sah die Digitalisierung in der Fotografie kommen und gehörte sogar zu den ersten, die eine Digitalkamera auf den Markt brachten. Dennoch scheiterte die digitale Transformation und Kodak war schließlich insolvent. Es gibt viele historische Beispiele von Marktführern, denen es nicht gelungen ist, Kompetenzen rechtzeitig zu „verlernen“, die sie einst erfolgreich gemacht hatten (und zunächst auch noch überlegen waren). Das Problem ist somit nicht nur auf Entscheidungen des Top Management beschränkt, sondern betrifft auch die Denkweise von Mitarbeitern auf der Expertenebene. An dieser Stelle ist die Schiffs-Analogie zu simpel: Organisationen sind eben keine Maschinen mit mechanischen Segeln und Steuerrad, deren Kurs und Geschwindigkeit sich ohne Weiteres ändern lässt. Im schlimmsten Fall steuert sogar eher das Schiff die Crew als umgekehrt.

Wenn nun gleichzeitig die Geschwindigkeit der Veränderung in der Branche zu hoch wird — man sozusagen auf einem reißenden Fluss dem Wasserfall zu entkommen versucht — dann ist irgendwann der Punkt erreicht, ab dem eine digitale Transformation nicht mehr gelingen kann: Die „Digitale Todeszone“ ist erreicht. Als Indikator für die Geschwindigkeit der Veränderung kann z.B. das Volumen an Risikokapital oder Investitionen von branchenfremden Firmen herangezogen werden, welche die Digitalisierung der eigenen Branche vorantreiben.

Allgemeine Innovationskraft messen und verbessern

Um die richtigen Prioritäten für das Management der digitalen Transformation setzen zu können und die gezielte Verbesserung der Innovationsfähigkeit zu ermöglichen, hat SOMMERRUST den „BM Waves Test“ entwickelt (www.sommerrust.com/test). Anhand von 33 Fragen werden Innovationspersönlichkeit, Stärken und Schwächen sowie innovationsspezifische Risikomuster analysiert (siehe Abbildung). Daraus lassen sich entsprechende Prioritäten und konkrete Maßnahmen ableiten, um kritische Schwächen zu entschärfen und Stärken effektiv zu nutzen. Um Wahrnehmungsverzerrungen Einzelner aufzudecken, werden Multipersonen-Studien durchgeführt, anhand derer die verborgenen Unstimmigkeiten aufgeklärt werden können. Ist beispielweise das Top Management eines traditionsreichen Mittelständlers noch überzeugt, dass das Unternehmen immer noch die längst vergangene visionäre Kraft von vor 20 Jahren besitzt, dann wird dies durch eine vergleichende Analyse mit den Einschätzungen neuer Mitarbeiter schnell offensichtlich. Auf Basis dieser Erkenntnis können dann geeignete Maßnahmen ergriffen werden, wie beispielsweise eine strategische Szenario-Analyse durchzuführen oder Design Thinking in der Produktentwicklung einzuführen.

Beispiel BM Waves Testergebnis
Abbildung 2: Beispielhaftes Ergebnis eines BM Waves Tests (Stärken und Schwächen)
Fazit

Setzt sich ein Unternehmen im Vorfeld einer digitalen Transformation ernsthaft mit seinen relevanten Stärken und Schwächen auseinander und managt diese in der Folge systematisch, so bekommt es nicht nur ein realistischeres Bild der anstehenden Herausforderung. Es erhöht auch die Erfolgschancen und reduziert Dauer, Kosten und Risiken des Transformationsprozesses.


 

Der obige Text ist ein Auszug der Publikation Digitale Transformation in Unternehmen — Navigationskompass für die Reise in die digitale Welt. Der Report ist eine Sammlung von Expertenbeiträgen, welche anhand der Analogie einer Schiffsreise verschiedene Aspekte Digitaler Transformation erläutern. Herausgegeben wurde der Report von der Berlin School of Digital Business, einem Tochterunternehmen von etventure. SOMMERRUST hat neben diesem Kapitel ein weiteres beigesteuert: Navigieren in neuen Gewässern.

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