Der Fall VW
Ein Weltkonzern mit knapp 600.000 Mitarbeitern wankt. Manipulierte Schadstoff-Messungen schickten die Aktie Mitte September 2015 auf Talfahrt. Der Skandal um den illegalen Einsatz von Software, die in Millionen Dieselfahrzeugen steckt, kostete den Vorstandsvorsitzenden bereits seinen Job; es wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet und Sammelklagen eingereicht. Die rechtlichen Konsequenzen sind noch nicht abzusehen, aber der Konzern hat mit milliardenschweren finanziellen Belastungen zu rechnen, die möglicherweise sogar existenzgefährdend werden können.
Volkswagen ist im Schockzustand.
Wenige Tage nach dem Führungswechsel spricht der neue Vorstandsvorsitzende Matthias Müller zur Belegschaft. Von Sparprogrammen ist die Rede, von der Überprüfung geplanter Investitionen. Ein verständlicher, vielleicht sogar notwendiger Reflex angesichts der Schwere der Krise.
Aber es liegt auch eine große Chance in diesen für Volkswagen so traumatischen Entwicklungen: Selten bietet sich für ein Unternehmen dieser Größenordnung die Chance, wirklich Neues zu wagen. Jetzt, da alte Gewissheiten in Frage gestellt werden, lassen sich verkrustete Strukturen überwinden. Disruptive Innovationen und unternehmerische Experimente — die bisher an Bürokratie und interner Politik gescheitert wären — könnten nun im Namen der Wiederauferstehung von VW eine Chance bekommen. Mehr noch — VW hat nun die einmalige Chance, eine neue Form der Innovationskultur zu etablieren: unternehmerisches, am Kundenwohl orientiertes Denken zu fördern statt es unter einer weiteren Schicht von „Compliance“-Richtlinien zu begraben.
Posttraumatische Episoden von Unternehmen
Auch wenn der VW-Skandal in seinem Ausmaß ein Extrembeispiel darstellt, sind traumatische Ereignisse in der Wirtschaft keine Seltenheit. Selbst ohne illegale Praktiken können eine missglückte Unternehmensstrategie, die neue Technologie eines Wettbewerbers oder ein disruptives neues Geschäftsmodell in vergleichsweise kurzen Zeiträumen existenzbedrohende Konsequenzen haben. Sobald die Gefährlichkeit der Lage erkannt wird, kann die Organisation mit der Aufarbeitung des Traumas beginnen. Es bietet sich nun ein Zeitfenster, in dem über die Jahre verlorene Innovationskraft zu neuem Leben erweckt werden kann.
Unsere Analysen der Innovationskraft von Unternehmen zeigen, dass insbesondere Zukunftsorientierung und Kreativität mit der Größe des Unternehmens tendenziell abnimmt. Dagegen treten Umsetzungs- und Konzeptorientierung bei Innovationsbemühungen zunehmend in den Vordergrund. Unternehmen werden damit immer mehr zu „Optimierern“. Gerade in Industrien, die vor großen Veränderungen stehen, ist dies jedoch brandgefährlich — viele historische Marktführer sind im Zuge einschneidender Branchenveränderungen in die Bedeutungslosigkeit verschwunden.
Mit den Themen Elektromobilität, selbstfahrende Autos und Vernetzung könnte solch ein Umbruch in der Automobilindustrie unmittelbar bevorstehen. Die Chance auf posttraumatische Innovationen könnte sich für VW somit langfristig als Segen erweisen. VW hat nun also die Wahl: wer soll das Unternehmen in die nächste Ära führen — Anwälte und Finanzmanager oder kreative Ingenieure und Unternehmer?