Die Angst vor dem Liliput-Effekt

Größe bedeutet Macht. Größe bedeutet einen Überlebensvorteil.

Dies gilt im Tierreich wie in der Wirtschaft. In der Evolutionsbiologie ist dieser Zusammenhang als „Copesches Gesetz“ bekannt: Begünstigt durch einen effizienteren Energiehaushalt und Vorteile im Wettbewerb mit Konkurrenten zeigten viele Gruppen von Arten in der Geschichte der Erde die Tendenz, immer größer zu werden.

Analog dazu profitieren große Unternehmen von Skalenvorteilen und ihrer Marktmacht. In vielen Branchen wie Energie, Pharma oder der Automobilindustrie haben sich entsprechend riesige Konzerne mit Zehn- oder gar Hunderttausenden von Mitarbeitern entwickelt.

Allerdings legt jüngere Forschung nahe, dass das Copesche Gesetz in der Evolution nicht gilt — ja sogar z.T. ins Gegenteil verkehrt wird — wenn sich die Umweltbedingungen radikal ändern: Massensterben, ausgelöst von einer starken Klimaveränderung oder einem Asteroideneinschlag, begünstigen kleinere Arten. Sie können sich durch eine höhere Reproduktionsrate schneller anpassen und besetzen in der Folge neue Nischen — der sogenannte „Liliput-Effekt“ setzt ein.

Derzeit bringt die Digitalisierung in vielen Branchen eine radikale Veränderung der Rahmenbedingungen mit sich. Viele große Unternehmen scheinen nun zu fürchten, selbst Opfer eines „Liliput-Effekts“ zu werden. Zahlreiche Großunternehmen wie Allianz, Axel Springer, Bayer, Bosch, RWE, E.ON, Lufthansa, Siemens oder die Deutsche Bahn haben inzwischen einen „Accelerator“, „Inkubator“ oder „Innovation Hub“ gegründet, um selbst wieder agiler und innovativer zu werden.

Die große Herausforderung hierbei ist, eine geeignete Brücke zwischen dem Konzern und der Welt der Startups zu schaffen. Denn auch wenn es eine Fülle an mehr oder weniger zurecht gepriesenen Innovationsmethoden gibt, sind diese in aller Regel wenig effektiv, sofern sie nicht an die Bedürfnisse und den organisatorischen Kontext des Unternehmens angepasst werden. Und auch wenn dies geschieht, ist der Weg beschwerlich: Die ersten Gehversuche sind oft ähnlich unbeholfen wie jene der frühen Verwandten der Quastenflosser es vermutlich waren. Aus diesen mit muskulösen Brust- und Bauchflossen versehenen Urzeit-Fischen entwickelten sich einst die Landwirbeltiere.

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Abbildung: Quastenflosser (Quelle: Alberto Fernandez Fernandez, CC BY-SA 3.0)

Unabhängig davon, welchen Weg ein Unternehmen genau wählt, um dem Schicksal der Dinosaurier zu entgehen, sollte es sich im Rahmen seiner Innovationsbemühungen auch auf Experimente einlassen, die vielfach keinen unmittelbaren wirtschaftlichen Nutzen versprechen. Dabei geht es nicht darum, große Risiken einzugehen, sondern vielmehr mittels neuer Arbeitsweisen möglichst viel und schnell zu lernen — sozusagen „Beine“ auszubilden, die nach und nach immer größere Sprünge ermöglichen.

Der Quastenflosser entwickelte sich übrigens vor über 400 Millionen Jahren. Das Massensterben der Dinosaurier vor 65 Millionen Jahren hat er überlebt. Trotz seines plumpen Aussehens.

 

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